Sind Österreichs Lohnabschlüsse wirklich “kritisch hoch”?


Jedenfalls behauptet das P.M.Lingens in seinem FALTER 8/24-Kommentar, offenbar belegt durch das Zitat einer (für mich im Internet nicht auffindbaren) EZB-Studie, nach der die Lohnabschlüsse großer EU-Länder um 4.5% stiegen (jene Deutschlands nur um 2.4%), jene Österreichs jedoch um „fast 9%“. Unklar bleibt, auf welches Jahr sich dieser Vergleich bezieht. Lingens fürchtet, dass diese hohen Tariflöhne uns im „Export Probleme bereiten .., die uns eine Weile begleiten können“.

Dagegen spricht, wie kürzlich eine von den relevanten österreichischen Ministerien unterstützte Studie der Forschungsgruppe Internationale Wirtschaft (FIW) festgestellt hat, dass Österreich 2023 im Export Martkanteile gewonnen (!!!) hat. Sie prognostiziert, dass in den kommenden beiden Jahren diese Gewinne zumindest gehalten werden. Ob das die Alarmrufe verdient?

Wirtschaftsdaten eines einzigen Jahres haben immer nur sehr beschränkte Aussagekraft für dfie Einschätzung der aktuellen und künftigen Entwicklung. Nach den Daten der Statistik Austria ist der österreichische Tariflohnindex 2023 zwar um 7.6% gestiegen, im Jahr zuvor jedoch nur um 3.0%. Im längeren Zeitvergleich, also gegenüber 2019 vor Beginn der Corona-Epidemie haben die Tariflöhne insgesamt um 15.9% zugelegt, die Inflation jedoch um 22.0%. Über diesen Zeitraum sind also die Reallöhne (sprich Kaufkraft) gefallen. Auch dieser Aspekt ist beim Nachholen der Löhne zu beachten. Der Modus österreichischer Lohnverhandlungen ist seit Jahrzehnten so eingespielt, dass er von der vergangenen Inflationsrate ausgeht. (Ob er im Sinne der mystifizierten „Benya-Formel“ dazu noch das Produktivitätswachstum als legitimen Lohnbestandteil dazuzählt, kann diskutiert werden). Das führt dazu, dass die Löhne im Aufschwung nachhinken, im Abschwung voranziehen. Gute Kaufleute führen ihre Betriebe nicht für den Moment, sondern vorausschauend für die mittlere Zukunft. Sie sorgen also in guten Gewinnjahren für schlechtere vor, und haben damit Polster für die Kaufkrafterhaltung ihrer Angestellten und für notwendige Investitionen. Die in der finanzmarktgetriebenen Ära üblich gewordene Praxis, sofort alle guten Gewinne auszuschütten statt sie zu thesaurieren oder investieren darf unter die negativen Verwerfungen neoliberalen Verhaltens subsummiert werden.

Lingens’ Fokus ist aber nicht so sehr Österreich, sondern Deutschland, dem er wieder einmal, wie schon seit Jahren „Lohnzurückhaltung“ attestiert, die vor allem verschuldete und schwache EU-Länder wie Italien in den Ruin treibe. Dass vielleicht Schwächen der italienischen (und anderer) Wirtschaft(en) für deren Misere verantwortlich sind, ignoriert er. Er meint auch im Umkehrschluß, dass diese Lohnzurückhaltung („= die niedrige Kaufkraft seiner Bevölkerung“) Deutschland sein Exportmodell aufgezwungen habe. Ich bin Anhänger der gegenteiligen Kausalität, nach der Deutschland seinen Erfolg seit Jahrzehnten im Export sucht und stolz den „Exportweltmeister“ gibt, und die dortige Lohnkonkurrenz auch das „gute“ Argument für die Unternehmen bietet, auch im Inland niedrige Löhne zu zahlen. (Es ist ja wohl nicht Italiens Schuld, dass Deutschlands Hartz 4-Niedriglohnmodell einen vorher kaum existierenden Niedriglohnsektor beschert hat. Dafür muss man schon Ex-Kanzler Schröder verantwortlich machen). Dass nicht nur die Lohnhöhe die Wettbewerbsfähigkeit bestimmt, sondern auch die Investitionen, die Innovationskraft, die Qualität der Produkte, die Markterschließung, ist Ökonomen auch bekannt. Und offenbar ist die Gewinnentwicklung der deutschen und österreichischen Unternehmen in den letzten beiden Jahren so gut (gewesen), dass Dividendenzahlungen (und auch Aktienrückkäufe) in riesigem Ausmass möglich waren und sind (man lese dazu die einschlägige Wirtschaftspresse).

Natürlich spielen Löhne eine Rolle für die Wirtschaftsentwicklung, natürlich spielt die Lohnentwicklung des Marktführers auch eine Rolle für die um Marktanteile konkurrierenden Länder. Aber eine einseitig eng definierte Wettbewerbsfähigkeit, die nur durch die momentanen Lohnverhandlungen bestimmt werde, gehört eher ins Lobby-Nähkästchen der Wirtschaftsvertreter als dass sie einer ernsthaften Analyse zuträglich ist. Aufgabe einer verantwortungsvollen Lohnpolitik ist es, den Spagat zwischen Kaufkrafterhaltung/-erhöhung und Wettbewerbsfähigkeit mittelfristig zu schaffen. Dem Alarm eines einziges Jahres sollte der Gegenalarm anderer Jahre gegenübergestellt werden. Wirtschaftspolitik benötigt die Abwägung unterschiedlicher Interessenlagen und Zielvorstellungen. Eindimensionalität gehört nicht dazu.

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Filed under Crisis Response, Socio-Economic Development

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