Die Aufregung in der europäischen Industrie ist groß: der US-Inflation Reduction Act (IRA) soll 369 Mrd $ (über vier Jahre) für in Nordamerika (USA, Kanada und Mexiko) erzeugte „grüne“ Investitionen im Bereich Autos, Batterien, Chips und andere Bereiche – hauptsächlich über Steuererleichterungen – pumpen und damit die USA zur führenden „grünen Industrienation“ machen. In der EU befürchten einige mächtige Wirtschaftslobbyisten und Politiker, dass damit die USA auch europäische Unternehmen abwerben wollen, da nicht-nordamerikanische Produzenten nicht in den Genuss dieser Subventionen kommen sollen. Van der Leyen hat sofort, zuletzt in Davos, darauf reagiert und angekündigt, das EU-Beihilferecht, welches grundsätzlich Subventionen verbietet, zu lockern (wie dies bereits für Covid-Medikamente und Schutzkleidung geschehen ist), sowie einen „Europäischen Souveränitätsfonds“ zu dotieren, aus welchem EU-Unternehmen unterstützt werden sollen. Es gehe um nicht weniger als den Fortbestand der europäischen Industrie. Dies klingt wie österreichische Anlassgesetzgebung: wenig durchdacht, rasch auf Lobbying reagiert, ein weiteres Stück Fleckerlteppich und Money, money, money.
Fakten
Die EU Recovery and Resilience Facility (RRF)
Dieser über 800 Mrd € schwere Fonds zur Wiederaufbauhilfe nach den Covid Lockdowns steht den Ländern auf Antrag nach Vorlage eines zu genehmigenden Programms zur Verfügung. Dabei sind pro Land 37% für „grüne“ Investitionen vorzusehen. Allerdings gibt es dafür, im Gegensatz zur IRA, keine Beschränkung für Firmen aus dem Ausland, entspricht daher auch den Nicht-Diskriminierungsregeln der Welthandelsorganisation. Die EU hinkt bei den Fördermöglichkeiten für die Grüne Transition also keineswegs hinter den USA her. Allerdings überlässt die EU (sinnvoller Weise) den Mitgliedsländern die von der Kommission zu bewilligenden Projektentscheidungen.
Important Projects of Common European interest (IPCEIs)
Diese bereits im EU-Vertrag vorgesehene Lockerung der Beihilferegeln für Projekte „im besonderen Europäischen Interesse“ soll „Strategische Autonomie“ und „Technologische Souveränität“ für Europa sicherstellen und in ganz spezifischen, zu genehmigenden Projektclustern „Europäische Champions“ entlang bestimmter Wertschöpfungsketten ermöglichen. Bislang gibt es nur eine kleine Anzahl von genehmigten Projekten, und zwar mehrere im Bereich Mikroelektronik, Batteriewertschöpfungsketten und Wasserstoff; Interesse gibt es noch für Next Generation Cloud und Gesundheit. In Österreich gibt es Bestrebungen, den klimagetriebenen Kreislauf-Verbund für Industriecluster als IPCEI genehmigen zu lassen. Die Projekte müssen länderübergreifend sein, mit Kooperationspartnern abgewickelt werden und den übergeordneten Zielen der EU entsprechen. Sie sind Ansätze zu einer „missionsorientierten“ Industriepolitik (siehe unten).
Direktinvestitionen
Der Ruf nach europäischen Subventionen als Antwort auf die IRA wird auch mit der dadurch möglichen Abwerbung europäischer Industriefirmen in die USA argumentiert. Sogar mit einer drohenden „Deindustrialisierung Europas“ sollen der Politik Subventions-Beine gemacht werden. Die Daten sprechen anders: nach Erhebungen der OECD haben die EU Länder 2021 Direktinvestitionen (also die Gründung, Erweiterung oder Übernahme von Firmen – im Gegensatz zu Finanzinvestitionen) in den USA im Ausmaß von 154 Mrd $ getätigt, die USA in der EU um 168 Mrd $. In den ersten drei Quartalen 2022 dreht sich das Verhältnis um: die EU hat in den USA 85 Mrd $ investiert, die USA in der EU 79 Mrd $. Man sieht an diesen beiden Jahren, dass hier weitgehendes Gleichgewicht besteht, da Direktinvestitionen zum (nicht all-)täglichen Geschäft der globalisierten Wirtschaftsentwicklung gehören. Längerfristig sieht man große jährlich Schwankungen dieser Finanzflüsse in beide Richtungen, allerdings halten sich in den letzten 20 Jahren die gesamten Ströme nach Ost und West in etwa die Waage.
Zum Teil hängen die großen jährlichen Schwankungen mit Wechselkursentwicklungen zusammen: wenn der Dollar für den Euro billig ist, lohnt es sich – ceteris paribus – für Europäer, in den USA einzukaufen, und umgekehrt. Wenn europäische Firmen Produkte herstellen, für die sie einen großen dauerhaften Markt in den USA sehen, zB langfristig die Vorliebe der Amerikaner für deutsche Luxusautos, werden sie sich überlegen, dort Produktionen aufzubauen, etc. In der globalisierten Wirtschaft spielen Direktinvestitionen vor allem zum Aufbau von „billigen“ Lieferkettenproduktionen, sei es aus Rohstoffgründen, aus Gründen billiger Arbeitskosten – oder auch aus Gründen des Vorhandenseins bestimmter hoch qualifizierter Arbeitskräfte (vor allem in Forschung und Entwicklung) eine wichtige Rolle. Die derzeitige USA-Subventionierung ist eine Antwort auf die seit Covid teils zusammengebrochenen weltweiten Lieferkettenstruktur, ist aber sicher auch dem aktiven Versuch geschuldet, abgewanderte Arbeitsplätze wieder ins Land zu holen („re-shoring“). Neben rein ökonomischen Gründen spielen jedoch zunehmend Hegemonie-strategische Gründe, stammend aus dem Anspruch Chinas, seine globale Rolle als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt spielen zu wollen, eine Rolle. Der „alte“ Hegemon USA verteidigt seine althergebrachte globale Vormachtstellung mit (fast) allen Mitteln gegen den Newcomer China. Europa sollte sich in die drohende Zweiteilung der Lieferketten nicht einbinden lassen und seine Industriepolitik an den Interessen der eigenen Bevölkerung ausrichten.
Renaissance einer Industriepolitik?
Green Deal, IPCEI und andere europäische wirtschaftspolitische Versatzstücke können Teil einer unter dem Titel des globalisierten Marktes lange verpönten neuen Industriepolitik sein, die in der EU im Rahmen der Vier Freiheiten des Binnenmarktes bis vor kurzem tabuisiert war, bis man durch die chinesische Industriepolitik („Agenda 2025“) von 2015 hellhörig wurde, die China zum attraktivsten Markt für ausländische Direktinvestitionen machen sollte und in zehn Bereichen chinesische Unternehmen zu Weltmarktführern machen sollte. Da China in der Zwischenzeit zur zweitgrößten Volkswirtschaft nach den USA geworden ist und machtmäßige Hegemonialansprüche stellt, hat man in Europa und den USA einerseits begonnen, den Verkauf eigener High-Tech-Unternehmen an China zu behindern, andererseits aber auch eigene industriepolitische Überlegungen anzustellen, wie man sich im Konkurrenzkampf der Zukunft behaupten könne – und hat damit die eigenen ideologiegetriebenen Konzepte, dass der „Markt“ sich selbst regulieren solle, zugunsten stärkerer Staatsinterventionen, sprich „Industriepolitik“ über den Haufen geworfen.
Die Klimakrise hat zu diversen „Grünen Plänen“ geführt, die Investitionen in Dekarbonisierung von Industrie und Energie zugunsten einer nachhaltigen Entwicklung fördern sollten. Das Covid-Debakel der im Westen nicht verfügbaren Medikamente und Schutzbekleidungen hat das Bewusstsein gefördert, dass die früheren, rein kosten- und marktgetriebenen Auslagerungen dieser Bereiche vor allem nach Südostasien dazu geführt haben, dass vor allem Pharma-Wirkstoffe nur mehr dort hergestellt wurden. Dies wurde zu einem neuen Sicherheitsproblem stilisiert, das einseitige Abhängigkeiten schaffe – und rückgängig gemacht werden müsse (Die einzige europäische Antibiotikaproduktion gibt es in Österreich). Die Abhängigkeit Europas von russischem Erdgas hat Alarmglocken läuten lassen und die Suche nach nicht-russischen Energiequellen, und darüber hinaus den Ausbau nicht-fossiler Energiequellen befördert.
Reaktion oder Strategie
Es zeigt sich jedoch, dass im Gegensatz zum wohldurchdachten chinesischen Agenda 2025-Modell (welches allerdings auch durch die jüngsten Covid-Verwerfungen weit von seinen Zielen entfernt ist) in Europa und den USA eher die beschriebenen reaktiven industriepolitischen Aktivitäten an der Tagesordnung sind, und nicht strategisch geplante Versuche, Industrie und deren wichtige Dienstleistungsaktivitäten (F&E, technische und organisatorische Innovationen, Marketing, Finanzierung und andere) durch gezielte Innovation, Standardsetzung, öffentliche Beschaffungsaktivitäten, Wettbewerbspolitik, Ausbildungsstrategien und – vor allem in Europa – strategische Kooperationen über Ländergrenzen hinweg als Kernstücke einer künftigen nachhaltigen Gesellschafts- und Wirtschaftsentwicklung zu positionieren.
Missionsorientierung
Eine solche Industriepolitik sollte auf gesellschaftspolitisch relevanten „Missionen“ aufbauen: dazu wären Problemlösungen für Volksgesundheit, für die Alterung der Gesellschaften, eine weniger Raubbau am Menschen betreibende Wirtschaft, für Digitalisierung, für Mobilität der Zukunft und andere zu zählen, die in einem breiten gesellschaftlichen Diskursprozess zwischen Zivilgesellschaft, ExpertInnen und Politik zu erarbeiten wären. Neben den direkten Produktionsprozessen zählen zu solchen Missionen zwingend auch die Arbeitsbedingungen, die Remuneration der Arbeit, die notwendige Bereitstellung der nachhaltig orientierten Infrastruktur sowie auch die Finanzierung.
Die allenthalben zuallererst geforderte Bereitstellung von Finanzierungsmitteln wird erst dann relevant, wenn über die Ziele und Mittel einer solchen Industriepolitik Klarheit besteht. Angesichts der riesigen auf den Finanzmärkten hin- und hergeschobenen Finanzmittel ist nicht die Knappheit von Kapital der Engpass, sondern die Herstellung des zielgerichteten Einsatzes solcher oft risikoreicher privater und dann erst öffentlicher Mittel.
Markenzeichen solcher „Missionen“ ist die gemeinsame Definition eines bestimmten Zielbündels unter Einbeziehung von Unternehmen, Stakeholdern und Politik, sowie die darauf folgende Umsetzung der erforderlichen Schritte mithilfe aller direkt und/oder indirekt beteiligten Unternehmen, politischen und gesellschaftlichen Akteuren. Im europäischen Kontext können solche Missionen zwar auf Länderebene gestaltet werden, sollten damit aber nur Teil von gesamteuropäischen Lösungen sein, die wiederum miteinander koordiniert werden müssen.
Eine solche Industriepolitik darf sich jedoch nicht nur in weiteren Investitionen und damit Wachstum erschöpfen, sondern muss auch den Mut haben, gesellschaftlich, ökologisch, sozial und gesamtwirtschaftlich unerwünschte Aktivitäten (zB das„Mining“ von Cryptowährungen mit riesigem Energiebedarf, Glücksspiel, emissionsintensive Produktionen, Fahrbahngeschwindigkeiten, Bodenversiegelung, Gletscherverbauung für Tourismus, etc.) zu verbieten, bzw. auch gegen starke Interessen einzelner Personen, Unternehmen oder Gruppen durchzusetzen.
25 Jahre marktgetriebenes industriepolitisches Vakuum
Die europäische Industrie und Wirtschaft hat sich lange gegen offenkundig notwendige Änderungen gewehrt: die Klima- und Umweltkrise ist spätestens seit den 1970er Jahren von vielen Fachleuten in ihren gravierenden Auswirkungen dargestellt worden; die Finanzkrise 2008 ff. hat die Dysfunktionalität und Destruktivität ungebremster Finanzaktivitäten für aller Leben aufgezeigt; die “Dieselkrise“ vor allem der europäischen (deutschen) Autoindustrie hat nicht zu frühzeitiger Umstellung auf Elektromobilität, sondern zur weiteren „Optimierung“ von Dieselmotoren geführt, was sich jetzt bitter rächt. Das falsche Dogma, dass gesellschaftlicher Wohlstand in Europa primär auf unbeschränkter Energieverfügbarkeit basiert, ist weiterhin aufrecht: die seit den 1980er Jahren wiederholten Mahnungen, dass „die beste Energie jene sei, die nicht gebraucht wird“, wurden von den Energielobbies geflissentlich überhört: auch jetzt sind Energieeinsparungen, die Überprüfung der gesamtgesellschaftlichen und -wirtschaftlichen Kosten dieses „Energiestalinismus“, kaum auf der Agenda und werden von immer weiterem Aufsuchen neuer Energiequellen überlagert. Dies bedeutet keineswegs, dass Energiedienstleistungen nicht eine ganz wesentliche Grundlage für gesellschaftliche Entwicklung darstellen, sondern nur dass die gesellschaftlichen, ökologischen, klimatechnischen und wirtschaftlichen Folgekosten der Energiebereitstellung adäquat berücksichtigt werden müssen.
Das österreichische industriepolitische Vakuum
Der österreichische Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen hat in den Jahren 1970 bis 1991 sich dreimal in Studien zur Industriepolitik geäußert, und seither sich nur 2013 zu einem Vorschlag zu einer Innovationspolitik durchgerungen. Für die Jahre dazwischen und seither war die Beschäftigung mit „Industriepolitik“ verpönt. Der „Markt“ sollte alles richten. Die EU hat 2021 ihre bis dahin sehr vage bleibenden industriepolitischen Zielsetzungen „überarbeitet“ und seither die „Schaffung von Sicherheit für die Industrie durch einen vertieften und stärker digitalisierten Binnenmarkt; die Wahrung fairer Wettbewerbsbedingungen in der Welt; die Unterstützung der Industrie auf dem Weg zur Klimaneutralität; den Aufbau einer stärker kreislauforientierten Wirtschaft; die Förderung des Innovationsgeistes in der Industrie; den Kompetenzerwerb und Umschulung; und Investitionen in den Wandel“ als Zielsetzungen definiert. Es bleibt jedoch (bisher; siehe die anfangs zitierte Rede der Kommissionspräsidentin van der Leyen beim Weltwirtschaftsforum in Davos) bei eher unverbindlichen Empfehlungen, einem in Einzelteilen durchaus ambitionierten Stückwerk, bzw. dem Ruf nach weiteren finanziellen Subventionen.
So sieht Strategie aus
Die heutigen europäischen Ängste vor einem „neuen amerikanischen Protektionismus“ sind überzogen. Dieser existiert zwar, doch sind seine Auswirkungen auf Europa weniger bedrohlich. Die derzeitigen Äußerungen führender europäischer PolitikerInnen, die eigene Subventionen als Mittel gegen die befürchtete Abwanderung europäischer Industriebetriebe fordern, sind konzeptuell falsch, da sie sich vor allem auf die „Standorterhaltung“ bestehender Strukturen beziehen, anstatt die für künftige Entwicklungen eigenen wichtigen Weichenstellungen zu bewerkstelligen: die Probleme dabei liegen viel stärker in hausgemachten Versäumnissen, mangelnder Kooperationsbereitschaft, extrem bürokratisierten Entscheidungsprozessen und dem Eingestehen, dass die Entwicklung einer langfristig tragfähigen Industrie eher durch langfristig lieb gewordene Strukturen („vested interests“) behindert wird, denn durch fehlende Finanzmittel. Klare Konzepte mit BürgerInnen- und Expertenbeteiligung, prioritäre Zielvorgaben und Zeitpläne, Kooperationsgebote à la Horizon EU Forschungsprogramme, Überprüfung regulatorischer Lücken und Hemmnisse sind unverzichtbare Teile einer künftigen europäischen Industriepolitik, die nicht auf Welt-Marktanteile schaut, sondern die Sicherung der Zukunft ihrer Bevölkerung anstrebt.
Die Europäische Union (und damit Österreich als deren Teil) muss zwar außereuropäische Entwicklungen, besonders in China und den USA, berücksichtigen, jedoch ihre eigenen strategischen Ziele definieren – und nicht in einem wirtschaftspolitischen „MeToo“ deren Entwicklungen und Politiken nachhinkend imitieren. Die EU hat einen riesigen Binnenmarkt von 450 Millionen Einwohnern und die zweit- bis drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Sie sollte sich stärker auf das Wohlergehen ihrer BürgerInnen und auch Unternehmen konzentrieren statt auf ihre Handels- und Direktinvestitions- Positionen im Weltmaßstab. Sie muss und kann nicht am Hegemonie-Wettkampf zwischen USA und China teilnehmen, sondern ihre eigenen Wege gehen. Dazu braucht es eine gezielte Strategie.