Effizienz oder Umbau zur Nachhaltigkeit?


Zum Binnenmarktbericht von Enrico Letta

Der eben zuende gegangene EU-Gipfel dsikutierte (?) auch den beauftragten Bericht Enrico Lettas, des früheren italienischen Premiers, zur Erneuerung des Binnenmarktes „Much More than an Market. Speed, Security, Solidarity. Empowering the Single Market to deliver a sustainable

future and prosperity for all EU Citizens (April 2024)“. In den Schlußfolgeriungen des Europäischen Rates am 18.4.2024 wird die Notwendigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu stärken, als Ziel formuliert, mit keinem Wort jedoch die Notwendigkeit des Umbaues der Wirtschaft und Gesellschaft in Richtung ökologischer Nachhaltigkeit. Ist das das Ende des so wichtigen Green Deals?

Auch Lettas Vorschlag zielt in diese Richtung: „Dieser neue Rahmen muss in der Lage sein, die fundamentalen Freiheiten auf Grundlage eines Level Playingfield zu schützen und dabei das Ziel, eine dynamische und wirksame europäische Industriestrategie zu schaffen“ (S 5).

Sehr detailliert illustriert Letta alle Schwächen des „Kronjuwels der EU“ (@ Felbermayer), das Ökonomen auch „Globalisierung auf Steroiden“ genannt haben. Als Resultat der Änderungen seit Gründung des Binnenmarktes anfangs der 1990er Jahre (Alterung der Gesellschaften, Machtpolitik statt Regelbasierung, die Nichteinschließung von Finanzen, Energie und Kommunikationsleistungen – er spricht nicht über die Landwirtschaft), fordert Letta vor allem eine „fünfte Freiheit“ als Ziel des Binnenmarktes. Zusätzlich zu den bestehenden vier, nämlich die von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen, schlägt er eine für Forschung, Innovation und Ausbildung vor, um den Herausforderungen unserer Zeit gerecht zu werden. Als einzige Konzession auf die sonst rein angebotsorientierte Ausrichtung und Idee des Binnenmarktes fordert er eine „Spar- und Investitionsunion“, um einerseits (wieder angebotsseitig) den Finanzsektor und die Netzwerke zu europäisieren. Trotz dieses Abstechers in die Makroökonomie verbleibt er im weiteren auf der strukturellen Seite der Angebotsorientierung.

Er fordert den Abbau weiter bestehender Barrieren zwischen den 27 Mitgliedstaaten und nennt dabei vor allem den Energiesektor (vor allem Ausbau und Verbindung der Netze) und den Mobilitätssektor, und hier die Eisenbahn, die bisher weiter getrennt auf mehr als 20 unterschiedlichen Sicherungssystemen, drei Spurweiten und anderen nationalen Eigenheiten fährt, die oft Lokomotivwechsel bei Grenzüberschreitungen verursachen, wodurch es ihm bei seiner Arbeit an diesem Bericht nicht möglich war, „den Besuch von 65 Städten durch ein durchgehendes Schnellbahnsystem zwischen den Haptstädten zu bewerkstelligen“.

Viel Platz braucht er, um die Finanzierung der künftigen Investitionen zu verbessern. So fordert er vor allem die Vollendung der „Kapitalmarktunion“, um die nationale Fragmentierung der Kapitalmärkte zu beenden und mehr von den 33 Billionen Euro, die die Europäer sparen (von denen mehr als 1/3 niedrig verzinst bei den Banken lägen) für die mehr als 620 Mrd € jährlich zu lukrieren, die für die Investitionen der Zukunft notwendig seien. Zu diesen zählt die gründe und digitale Transformation, sowie die Finanzierung und Europäisierung der Waffenindustrie (S 28).

Sinnvoller Weise fordert er auch die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Aufsichtsorgans für die Finanzmärkte, statt der derzeitigen Trennung in Banken-, Versicherungs-, Werpapier- und Börsenaufsichtssystems, die Schaffung einer gemeinsamen europäischen Börse, sowie die Schaffung eines gemeinsamen europäischen automatischen Pensionsprodukts (S 30), sowie die Verbriefung von Green Bonds. Das Dogma der Effizienz von „deep and liquid capital markets“, das die Befürworter der Amerikanisierung der europäischen Finanzmärkte, ungeachtet der Vewerfungen, kriminellen Handlungen und Volatilitäten ungebremster Finanzmärkte in den leztten jahrzehnten erzeugt haben (Finanzkrise 2008ff.???) wird von Letta getrommelt. Eine Lockerung der EU Wettbewerbsregeln soll es „EU-Champions“ ermöglichen, den Giganten der USA und Chinas Paroli zu bieten.

Meines Erachtens ist diese ganze Übung trotz einer Reihe von durchaus sinnvollen Vorschlägen, eine gigantische Themenverfehlung und zwar aus folgenden Gründen:

– Akzeptiert man den Binnenmarkt als „Kronjuwel der EU“, der wie er ist weiter entwickelt werden muss, um den Entwicklungen seit Entstehung Rechnung zu tragen, dann ist Lettas aufwendiger Bericht sicher positiv im „Weiter und besser wie bisher“.Wir sollten jedoch nicht übersehen, dass der „Binnenmarkt“ und seine Heiligsprechung die Krönung neoliberaler Angebotsorientierung der Wirtschaftspolitik darstellt, die für die gravierenden Verwerfungen, die Klimakrise, die ungebremste Ausbreitung der Pandemie, die gigantische Zunahme von Reichtum bei gleichzeitiger Armut, sowie den dadurch ausgelösten „Politikverdruss“, die Polarisierung der Gesellschaften durch Zulauf zu demagogischen Populisten mit verantwortlich ist.

– Aber: Statt den Binnenmarkt künftig als Treiber für den Umbau zu einer nachhaltigen Gesellschaft und Wirtschaft zu nutzen, bleibt er (trotz einiger Lippenbekenntnisse zum grünen und digitalen Umbau) bei Letta primär ein Instrument der Steigerung der internationalen „Wettbewerbsfähigkeit“, der „Standortpolitik“. Inwieweit Letta da nicht den nach der EU-Wahl zu erwartenden Bericht Mario Draghis – ebenfalls Italiener – konterkariert oder dupliziert, ist zu fragen.

– Letta versteht den Binnenmarkt und dessen Weiterentwicklung primär als auf die Verbilligung von Produktion und Dienstleistungen zugeschnitten („Effizienz“). Dabei „vergißt“ er auf die auch von der EU-Politik vernachlässigte Nachfragefunktion des Binnenmarktes. Es geht ihm primär um „Wettbewerbsfähigkeit“, „Effizienz“ der Angebotsseite. Das Wohlergehen der 450 EuropäerInnen, deren Nachfragestärke, deren Eigenständigkeit und eigene Kultur und deren Wohlergehen sich nicht an jener der Chinesen, Inder und Amerikaner (und anderer Länder) zu orientieren haben, liegt ihm abgesehen von der Betonung der Bedeutung der sozialen Funktion des Binnenmarktes (die er nur im wichtigen Funktionieren der Volksgesundheit und Pflege sieht aber nicht weiter ausführt) außerhalb der Weiterentwicklung des Binnenmarktes. Ein schwerer Fehler, der auch die EU- und Binnenmarktverdrossenheit vieler EuropäerInnen erklärt: niemand sagt ihnen, was der Binnenmarkt für sie selbst bringen kann – über abstrakte „Wettbewerbsfähigkeit“ hinaus.

– Eine ganze Reihe der von Letta angesprochenen Verbesserungen des Binnenmarktes, vor allem die Betonung der Bedeutung von Forschung und Innovation und Ausbildung, die Europäisierung der Mobilitäts- und Energienetze, sein zaghafter Appell zur Neuordnung der Finanzmarktaufsicht und zur Schaffung von gemeinsamen EU-Anleihen und anderen Sparprodukten sind durchaus positiv zu bewerten und hätten auch in einer auf Umbau orientierten Weiterentwicklung des Binnenmarktes Platz.

– Dagegen läßt sein Appell zur Kapitalmarktunion jegliche Kritik an den negativen Auswirkungen der ungebremsten Kapitalmarktexpansion weltweit, der Unterordnung der Wirtschaftspolitik unter die Interessen der Finanzmarktakteure, die Kurzfristigkeit von Investitionsentscheidungen und exorbitante, von der Realwirtschaft (ohne Ausbeutung) nicht zu leistende Renditen erfordert, vermissen und fordert blauäugig (?) die „Amerikanisierung“ europäischer Finanzmärkte. Meines Erachtens geht es darum, die Negative der überbordenden Finanzmarktexpansion zu bekämpfen und die Positiva zu betonen. Dabei wäre es zielführender, die Vollendung der europäischen „Bankenunion“ zu fordern, die bisher an der fehlenden Europäisierung des Einlagensicherungssystems plus einiger kleinerer Lücken krankt, wodurch Banken weitgehend national agieren. Trotz der Verfehlungen vieler Banken vor und nach der Finanzkrise 2008 ff. sind deren Aktivitäten zur Finanzierung der Realwirtschaft leichter von überbordenden Spekulationen zu überwachen als jene der anonymen und weitgehend spekulativen Nicht-Banken-Finanzmärkte.

– Das Ignorieren der Weiterentwicklung des Binnenmarktes zum ökologischen und digitalen Umbaus der Wirtschaft (zu letzterem sagt Letta übrigens gar nichts) kann nur dazu führen, dass ein breiterer und effizienterer Binnenmarkt mit vielleicht weniger fossiler Energie die EU, also uns alle (und die Welt) weiterhin (vielleicht etwas später) an die „planetarischen Grenzen“ stößen läßt. Der Fokus auf „Effizienz“ dreht zwar an einigen Schrauben, stellt aber nicht grundsätzlich das “System“ der Priorisierung des Wirtschaftswachstums als Ziel der EU Wirtschaftspolitik in Frage. Es kann in Zukunft nicht um finanzieller Kosteneffizienz gehen, sondern an eine viel weiter gefaßte Umwelt-, Sozial- und ökonomische Effizienz, die den Wohlstand der Menschen stärkt.

– Anstatt als drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt zu zeigen, dass das ressourcen-, umwelt- und arbeitskraftverbrauchende Paradigma abgelöst werden kann von einer tatsächlich „nachhaltigen“ Wirtschafts- und Konsumtionsweise bleibt Lettas Vorschlag bei „mehr und besser vom Alten“. Eine vergebene Chance. Offenbar, wie die enttäuschendenn Schlußfolgerungen des Europäischen Rates vom April 2024 zeigen, aber ganz im Sinne der EU Regierungschefs. Green ist out, Wachstum wieder in!

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One response to “Effizienz oder Umbau zur Nachhaltigkeit?

  1. Markus Puffing

    Danke für die Zusammenfassung und die kritische Betrachtung. Grüße MP

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