Abdankung der Wirtschaftspolitik zugunsten der Finanzmärkte?


Die Machtfrage ist leider längst entschieden: anonyme Finanzmärkte und deren Begehrlichkeiten sind zum Fokus der menschgemachten Geld- und Fiskalpolitik geworden und beeinflussen auch die Strukturpolitik (Angebotspolitik). Man lese nur die Financial Times, die Neue Zürcher Zeitung oder Il Sole 24 ore, die primär über Geschehnisse auf den „Märkten“ berichten, denen die Realwirtschaft, das Wohlergehen der Bürgerinnen und Bürger, die Unternehmen zu dienen haben, und die auch die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik bestimmen.

Jüngstes heimisches Beispiel sind die Aussagen auf einer Diskussionsveranstaltung auf der Wirtschaftsuniversität am 13. März 2024, bei der die italienische Ökonomin Cinzia Alcidi sehr kompetent, wenn auch nicht vollständig, über die Eigenheiten des nunmehr wieder in Gang gesetzten „Stabilitäts- und Wachstumspaktes“ (SWP) berichtete. Es geht beim SWP um das zentrale fiskalpolitische Instrument innerhalb der Eurozone, das Gegenstück zur zentralisierten Geldpolitik in der Europäischen Zentralbank, notwendig, weil die Mitgliedstaaten sich ihre Steuer- und Budgetpolitik als Souveränitätsanker nicht nehmen lassen wollten. Seit Einführung des Euro ist die auf den Prämissen des SWP aufbauende Austeritätspolitik zu dem bestimmenden Element der Wirtschaftspolitik der EU geworden.

Seine – willkommene – Aussetzung im März 2020 führte zu der Hoffnung, dass die für danach vereinbarte Neufassung „einfacher, transparenter und effektiver“ sein werde.

Die Europäische Kommission machte mehrfach Vorschläge, die vor allem durch Deutschland und Frankreich strenger gemacht wurden. Die derzeitige Version ist weder einfacher, noch transparenter. Sie gibt jedoch den einzelnen Mitgliedstaaten mehr Mitsprache bei der Formulierung ihrer mittelfristigen Budgetpolitik, setzt auf die Kontrolle der Ausgaben als Hauptinstrument und stellt nicht das Budgetdefizit, sondern die langfristige Tragfähigkeit der Staatsschulden in den Mittelpunkt als Ziel.

Was hat das mit den Finanzmärkten zuz tun? Bei der WU-Veranstaltung gab es nach dem Vortrag eine Panel-Diskussion, die vom WIFO-Chef moderiert wurde. Teilnehmer waren die ÖNB-Direktorin für Wirtschaftspolitik, ein Vertreter der hiesigen EU-Mission und ein WIFO/WU-Angehöriger. Berichtenswert ist, dass die ÖNB-Direktorin relevante Kritik am neuen SWP vorbrachte und am Schluss meinte: inwieweit diese neue Version funktioniert, werden „die Märkte“ beurteilen. Diesen Schluss teilt der Moderator.

Interessant daran ist, wie die Hörigkeit den Finanzmärkten gegenüber bereits im österreichischen Mainstream angekommen ist. Man könnte ja meinen, dass der Vertreter des größten österreichischen Wirtschaftsforschungsinstituts die Beurteilung des SWP mit traditionell ökonomischen oder alternativ-ökonomischen, auch polit-ökonomischen Begründungen vornimmt, dass die ÖNB-Vertreterin eine bankeigene Beurteilung wagt und dies nicht den vielfach irrational agierenden Finanzmärkten als Schiedsrichter überläßt. Offenbar meinen auch diese beiden (stellvertretend für viele andere), dass das Wohl und Wehe der Finanzmärkte exklusiv ausschlaggebend für die Beurteilung wirtschaftspolitischer Aktivitäten ist. Die Irrationalität der Finanzmärkte wurde kürzlich wieder etwa durch Bankenzusammenbrüche, den horrenden Kursgipfel von 70.000$ der nicht werthaltigen Crypto“währung“ Bitcoin, die Verurteilung des Crypto-Jongleurs Bankman-Fried und anderes offengelegt. Und nun werden diese „Märkte“ auch von den an sich dazu Berufenen benutzt, um sich selbst mit geeigneten Analysen die Beurteilung der Wirtschaftspolitik von Staaten zu ersparen.

Es geht den genannten ÖkonomInnen also nicht darum, wie der neue SWP auf Wachstum, Beschäftigung und Investitionen in die Zukunft wirkt, sondern darum, wie die Finanzmärkte darauf reagieren werden. Eine perverse Welt: Wie schon der Knieriem bei Nestroy singt „Die Welt steht auf kan Fall mehr lang“, dank dem Gewährenlassen der Finanzmärkte. Wo ist die Gegenmacht? Die massive Geldausschüttung der österreichischen Bundesregierung an Unternehmen und Haushalte seit der Coronakrise (etwa 10% eines Jahres-BIP) gehen nicht auf Abgehen der Regierung von den Prämissen des SWP zurück (das ist durch die wiederholten Aufforderungen des Finanzministers der letzten Monate, dass “wir wieder zu einer nachhaltigen Budgetpolitik zurückkehren müssen” belegt), sondern sind eher stimmenmaximierung, populistisch zu interpretieren.

Dazu noch ein österreichisches Kuriosum: Die Regierung hat bereits im März 2024 beschlossen, jetzt noch die Neubesetzung des ÖNB-Direktoriums vorzunehmen, obwohl dessen Mandate erst im Juni 2025 auslaufen. In anderen Ländern (zB UK) gibt es die Vorgabe, knapp vor einer Wahl, keine personellen Änderungen mehr vorzunehmen, die die künftige Regierung präjudizieren könnten. Kolportiert wird nun, dass in dem künftigen 4-köpfigen ÖNB-Direktorium 2 Mitglieder von der ÖVP, eines von den Grünen und eines von der SPÖ nominiert werden sollen. Hier geht Österreich offenbar einen „eigenen“ Weg, zeigt aber damit auch den Europäischen Institutionen, dass die geforderte (politische) Unabhängigkeit der Nationalbank die österreichische Regierung nicht unbedingt juckt.

Andererseits: hinter dieser Entscheidung liegt offenbar nicht die Sorge um die bestmögliche Besetzung des Gremiums, damit man in der EZB endlich wieder „bella figura“ machen kann, sondern wieder einmal eine parteipolitische. Die Regierungsparteien dürften fürchten, dass, wie die Umfragen vorhersagen, die FPÖ bei den Wahlen die relative Mehrheit gewinnt und dann wieder bei der Direktoriumsbestellung mitreden kann. Bisher nominierte die FPÖ zwei Direktoriumsmitglieder, darunter den Gouverneur, die ÖVP ebenfalls zwei. Der kolportierte Vorschlag zeigt nicht nur, dass „man“ die FPÖ draußen haben will, sondern auch die Möglichkeit, mit der SPÖ in einer Koalition zu regieren, deren Goodwill man sich durch diese frühzeitige Entscheidung versichert.

Wenn diese frühe Entscheidung letztendlich dazu führt, dass sich Österreich im EZB-Direktorium nicht länger als Appendix Deutschlands und als lautstarkes Mitglied der „Frugal Four“, der „Sparsamen Vier“ sieht, sondern einer rationaleren Geldpolitik zugunsten des gesamten Euroraumes und seiner Herausforderungen zuneigt, dann könnte man sogar diesen demokratiepolitischen Lapsus (unter Bauchweh) akzeptieren. Die Chancen für einen inhaltlichen Positionswechsel Österreichs sind allerdings gering.

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Filed under Crisis Response, Financial Market Regulation, Fiscal Policy

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